Engbring-Lammers

 

Gestalttherapie

Gestalttherapie ist „Hier und Jetzt“ und „Ich und Du“
so lautet eine Kurzdefinition von Fritz Perls. Leider sind die Worte „Hier und Jetzt“ zu Schlagworten verkommen, so dass die inhaltliche Prägnanz der Perlschen Kurzdefinition gelitten hat. Diese Prägnanz besteht darin,

  • dass das, was einem Klient/einer Klientin an Unzufriedenheit, Belastendem und an Hilfreichem mitbringt, sich in der gegenwärtigen Situation der Begegnung mit dem Therapeuten zeigt, dort erfahrbar wird,
  • dass so in der Atmosphäre eines wertschätzenden, stützenden, ehrlichen Kontaktes neue Erfahrungen gemacht und alte Erfahrungen neu bewertet werden,
  • dass so Wahlmöglichkeiten/Handlungsalternativen erworben werden können.

Gestalttherapie ist Kontakt -
so eine weitere Kurzdefinition. Gemeint ist damit die grundlegende Annahme, dass Menschen in einem fortwährenden Austausch mit der Umwelt und damit auch mit anderen Menschen stehen. Nur durch diesen Austausch können Menschen ihre vielfältigen Bedürfnisse befriedigen, nur durch diesen Austausch können sie Zufriedenheit und Glück erfahren. Die Gestalttherapie geht in diesem Zusammenhang auch von dem sogenannten Organismus/Umwelt-Feld aus – ein schwieriger Begriff, der gleichwohl zentral für die Gestalttherapie ist. Im Verständnis dieses Begriffes sind Menschen Organismen: eine (ursprüngliche) Einheit aus Körper, Seele und Geist die untrennbar mit ihrer Umwelt verbunden ist. Um leben zu können, benötigen wir den Sauerstoff der Luft und die Nahrung; um zufriedenstellend zu leben, benötigen wir den nährenden Kontakt mit anderen Menschen, von denen wir Zuwendung, (Be)Achtung, Wertschätzung, Liebe usw. brauchen. Das klingt einfach und doch steckt in dem Personalpronomen „wir“ ein großer Teil der Schwierigkeiten und der Chancen: So wie ich die anderen Menschen (als Teil der Umwelt) für die Befriedigung meiner Bedürfnisse brauche, so brauchen andere Menschen mich für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse.
Gestalttherapie konzentriert sich deshalb darauf, wie ein Mensch diese Austausch- , diese Kontaktprozesse vollzieht. In dem therapeutischen/beratenden Prozess geht es immer auch die Fragen:

  • Welchen Zugang hat der jeweilige Mensch zu seinen Bedürfnissen, wie kann er ein klares Empfinden seiner Bedürfnisse bekommen (wie kann er in Kontakt mit sich selbst kommen);
  • wie kann dieser Mensch seine Bedürfnisse mit der erforderlichen Energie verfolgen (wie tritt er in Kontakt mit seiner Umwelt);
  • wie kann dieser Mensch sich seiner Bedürfnisbefriedigung hingeben (wie kann er vollen Kontakt erleben);
  • wie kann er diese und die damit gemachten Erfahrungen für sich integrieren, um sie zu einem Teil seiner Persönlichkeit zu machen, um damit die Gestalt, die mit Gewahrwerden der jeweilige Bedürfnisse aufkam, zu schließen, um damit Platz für eine neue Gestalt, für einen neuen Kontaktprozess, zu machen.

Über Gestalten und das Schließen von Gestalten.
Wir Menschen brauchen sehr viel (siehe oben) und wollen häufig noch mehr (auch Dinge, von denen wir nachträglich feststellen, dass wir sie zu unserem Glück gar nicht gebraucht hätten).
Was wir in den unterschiedlichen Situationen unseres Lebens brauchen, tritt uns als „Gestalt“ entgegen. Genauer: Durch unsere Bedürfnisse strukturieren wir das „Feld“, das uns umgibt. In jeder Situation können wir eine fast unbegrenzte Menge wahrnehmen; wir nehmen aber nur jenen Teil als eine Gestalt (die mehr ist als die Summe der Einzelheiten), die zu unserer Bedürfnislage passt. Sind wir gut in Kontakt mit uns selbst, ist diese „Gestalt“ klar und deutlich, entsprechend können wir energievoll in Kontakt mit unserer „Umwelt“ treten. Wir treten in einen Kontaktprozess, der seinerseits eine „Gestalt“ darstellt. Er weist eine bestimmte Abfolge von Teilschritten auf, die durchlaufen werden wollen: Vorkontakt, Orientierung und Umgestaltung, Voller Kontakt und Nachkontakt. Kontaktprozesse sind damit in sich geschlossene Einheiten – wenn sie geglückt durchlaufen werden. Da Menschen immer in Kontakt mit ihrer Umwelt treten (man kann nicht nicht in Kontakt mit der Umwelt treten – die Frage ist nur wie?), ist das Leben der Menschen somit eine Fülle von Kontaktprozessen, die erlebt und – bei einem Mindestmaß an Achtsamkeit - anschließend bewertet und – nach Möglichkeit - integriert werden und so die Persönlichkeit eines Menschen ausmachen.
Aber nicht alle Kontaktprozesse verlaufen vollständig und zufriedenstellend: Manche Erlebnisse werden nicht „verdaut“, nicht integriert. Sie sind „ungeschlossene Gestalten“ und bleiben ungeschlossen, auch wenn wir sie aus unserem Bewusstsein verbannen. Eine extreme Form ungeschlossener Gestalten sind traumatische Erlebnisse. Sie bleiben selbst dann, wenn ein Mensch sie verdrängt, in diesem Menschen vorhanden: Sie zehren Energie, sie führen zu vielfältigen Vermeidungsmechanismen, sie bestimmen zukünftige Kontaktprozesse und lassen diese blass, unvollständig und nicht zufriedenstellend werden.

Bildlich ausgedrückt sind Menschen so wie Bäume:
Ihre Kontaktprozesse reihen sich an einander und ergeben so etwas wie die Jahresringe, mit mehr oder weniger ausgeprägten Ausformungen – oder auch Knoten. Dieses Bild passt sehr gut: Wenn der Baum noch ein kleines Pflänzchen ist, sind die Umweltbedingungen und damit der Austauschprozess mit ihnen, ausschlaggebender als später, wenn er eine stattliche Größe erreicht hat. Entsprechend sind die Kontaktprozesse beim Menschen, wenn dieser ein Kind (und damit abhängig, verletzlich und höchst entwicklungsfähig) ist, entscheidend und bestimmen die Gestaltung vieler weiterer Kontaktprozesse (was sich in diesen späteren Kontaktprozessen, im jeweiligen Hier und Jetzt zeigt). Und so wie der Baum sich seinen Umweltprozessen nach Möglichkeit anpasst (und damit die Umweltbedingung anderer Bäume/Organismen gestaltet), passt sich auch der heranwachsende Menschen seinen Umweltbedingungen an und gestaltet damit sich und die Umweltbedingungen anderer Menschen.
So wie ein Mensch ist, so hat er sich mit seinen jeweiligen (und begrenzten) Fähigkeiten in seinem Austauschprozess mit seiner (begrenzten) Umwelt gemacht!
Alle seine Eigenarten, sind seine „kreativen Leistungen“, in denen er sein inneres Vermögen mit seinen spezifischen Umweltbedingungen in ein für ihn lebbares Gleichgewicht gebracht hat.
Einen entscheidenden Unterschied zum Baum gilt es jedoch festzuhalten: Ein Baum hat keine Chance, Bewusstheit über sich und sein Sosein zu erlangen, kein Baum hat die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Veränderung. Menschen hingegen schon und damit auch die Möglichkeit einer bewussten aktiven Gestaltung seines Lebens und damit auch die Chance, ungeschlossene Gestalten nachträglich zu schließen.
Existenzielles, Experimentelles, Experientielles

Diese Begriffe stellten für Lore Perls die Quintessenz von Gestalttherapie dar. Für sie geht es in der Gestalttherapie darum, eine hinreichende Bewusstheit darüber zu erhalten, dass alles, was wir erleben, eine existenzielle Bedeutung für uns hat. Diese Bedeutung erleben wir dann, wenn wir – unterstützt durch Ausprobieren, durch Experimente - uns unseren Erfahrungen öffnen. Dies hat Auswirkungen auf eine gestalttherapeutisch orientierte Arbeit, gleichgültig in welchem Setting sie stattfindet: Sie ist eine Einladung, sich seinen Erfahrungen zu stellen, neue Erfahrungen zu machen und sich ihre existenziellen Bedeutung gewahr zu werden. Gewahrsamkeit (Awareness) ist also ein wichtiges Mittel (und auch schon Ziel) der Therapie.

Gestalt ist keine Technik, kein therapeutisches Schnellverfahren, sondern ein ernster Weg, sich selbst zu finden und zu wachsen. Wachstum ist aber ein Prozess, der Zeit braucht. Gestalttherapie erfordert eine Haltung, die nicht in zwei Monaten erworben wird, sondern durch ein langes, ernstes Training, in dessen Zentrum die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit steht.“ F. Perls